20 000 km auf einer Backe

Fangen wir heute mal dort an, wo ich das letzte Mal aufgehört habe. Ich war also in Campeche. Einem hübschen Städtchen mit historischem Stadtkern mit bunten Häuserfassaden, das ganze umgeben von einer Stadtmauer auf der vereinzelt Kanonen auf das Meer hinausblicken. Die Innenstadt genauso verschlafen wie die gepflegte Promenade entlang des Golfes von Mexiko samt Fahrradstreifens. Die Sonne brennt vom Himmel und nach meinem frischen Fisch, den ich tatsächlich noch bekommen hatte, gönne ich mir einen Starbucks Cappuccino, schlendere durch die verschlafene Altstadt und wundere mich, dass hier so wenige Leute unterwegs sind. Nur eine Handvoll Touristen streift ähnlich verwundert umher. Zum Sonnenuntergang hole ich mir in einem Kiosk noch schnell ein Bier, flitze vor zur Promenade, setze mich auf die Kaimauer, mein Fahrrad im Arm und schaue auf den Golf hinaus, wo der rote Glutball langsam in die Fluten sinkt. Was für ein schöner Tagesabschluss. Am nächsten Tag sollte es ja weitergehen, auf die Strecke, von der ich mir nun nichts mehr erwartete… doch es sollte mal wieder ganz anders kommen… nicht nur schöne Natur, sondern sogar richtige Spannung und wieder viel Gastfreundschaft.

Die Promenade entlang verlasse ich also Campeche durch das Industrie- und Fischerviertel. Die einen verladen einen mächtigen Hammerhai in den Frachtraum eines Kleinlasters, ein paar Meter weiter ist die Pick-up Ladefläche voll mit Wannen voller kleiner Haibaybies, vielleicht 50 cm lang. Wieder weiter ein paar Wannen mit Haien und anderer Fische. Die Haie haben gerade Hochsaison, da aufgrund der Fastenzeit viel Fisch gegessen wird und die Mexikaner für die Abwechslung auf dem Teller gut bezahlen. Dafür springen die Fischer mit Harpune ins Wasser und jagen die „Räuber der Meere“. Ein Anblick, der mir fast ein bisschen leid tut. Über ein paar kleinere Steigungen geht es leicht im Landesinneren parallel zur Küste, bis endlich die Straße flach, teils nur wenige Meter entfernt, dem Verlauf des überraschend blau- türkisen Golfes folgt. So schön hatte ich mir das Meer hier nicht vorgestellt. Die Distanzen zwischen den Dörfern sind teils recht groß und entsprechend einsam und wenig befahren sind die Straßen. Mittags gibt es frischen Fisch an einem Strandimbiss unter Palmen – Meerblick gratis inklusive und es gibt wieder viele schöne Möglichkeiten zum Wildcampen an einsamen Stränden. Und dann kommt wieder dieser eine Moment. Der Moment, auf den ich mich jeden Abend wieder freue. Und hier am Strand ist er besonders schön. Das Tagwerk ist vollbracht, das Zelt ist aufgebaut, der Tag neigt sich dem Ende. Das Wasser kocht, der Campingstuhl steht bereit, der Kaffee wird aufgegossen und verströmt sein Aroma, die Kekspackung ist geöffnet. Und dann nehme ich auf meinem Stuhl platz, atme tief aus und die ganze Anstrengung des Tages fällt auf einen Schlag von mir ab, ja gleitet regelrecht mit dem Atem aus mir hinaus und ein tiefes Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit durchströmt mich. Perfekt wird dieser Moment, wenn man wie an diesen Tagen am Strand sitzt, den Kaffee in der Hand, den Blick hinaus aufs Meer, wo die Sonne, zum ich weiß nicht wie vielten Mal schon auf dieser Reise, als großer roter Ball im Meer versinkt, während Gruppen von Pelikanen in Formation am Horizont über der versinkenden Sonne vorbeiziehen. Wie am Abend zuvor auch schon und wie am darauffolgenden Abend wieder. Bei Ciudad del Carmen verabschiede ich mich vom Golf von Mexiko und komme in eine feuchte Landschaft aus Lagunen und Sumpfwiesen, auf denen Kühe im Wasser stehen und das nasse Gras fressen. An einem Straßenstand kaufe ich eine Tüte frisch gekochter Garnelen, verbringe eine halbe Stunde damit die Tiere für das bisschen Fleisch zu pulen und beschließe ungeschältes Getier von meiner Speisekarte wieder zu streichen und die Arbeit den Experten in Vietnam zu überlassen- also nur noch gepellte Tiefkühlgarnelen zu kaufen. Die Distanzen zwischen den Dörfern sind noch immer groß und nur gelegentlich sieht man mexikanische Cowboys zu Pferd und mit Lasso bei der Arbeit mit ihrem Vieh. Gefallen tut mir das ganze ganz gut.

In der wenig spannenden Stadt Villahermosa lege ich nochmal einen spontanen Pausentag ein. „Und dann ist es doch noch passiert.“ Ein Satz an den ich schon öfter gedacht hatte und von dem ich hoffte, ihn nie schreiben zu müssen. Um 11:30 Uhr mittags, ich hatte gerade die Kleinstadt Cárdenas 20 km hinter mir gelassen und war gut unterwegs, tauchten plötzlich 3 Männer auf einem Motorrad neben mir auf. Im Augenwinkel erkannte ich sofort, dass jemand den Lauf einer Pistole auf mich richtete. Bei genauerem Hinsehen, stellte es sich als ein älterer Revolver heraus. Mein erster Gedanke war: „Scheiße! Jetzt sind meine Sachen weg!“ Währenddessen versuchte direkt jemand immer wieder nach meinem GPS zu greifen. Der zweite Gedanke war: „Nein! Auf keinen Fall!“. Und so ging ich direkt zur im Vorfeld häufig überlegten Strategie über. Erste Verteidigungslinie: Rammen! Mit maximal möglichem Schwung versuchte ich das Motorrad in die Fahrbahn zu rammen, so dass sie entweder stürzen oder von einem Fahrzeug angefahren würden. Natürlich sind die Chancen bei 150 kg (Rad und Fahrer) gegen ein doppelt so schweres Motorrad mit drei Männern gering, aber ich wollte es nicht unversucht lassen. Psychologisch war ich hier ja deutlich im Vorteil, weil ich gedanklich diese Situation schon mehrfach durchgespielt hatte und der Überfall tatsächlich genauso ablief, wie ich es mir gedacht hatte. Die Gangster dagegen sind in einer deutlich angespannteren Position, da sie nicht genau wissen können, wie der Überfallene reagiert. Zudem haben sie wenig Zeit und müssen befürchten, dass jemand dem Radfahrer zur Hilfe eilt. Letztendlich war das Rammen wie erwartet nicht effektiv, zumal sich das Motorrad zu dicht bei mir befand und sich die Beifahrer schon hinten an meinem Gepäck festgehalten hatten. So bekam ich keinen ausreichend großen Impuls zustande. Immerhin verschaffte es mir ein klein wenig Luft, musste letztendlich aber leider doch in das unbefestigte Bankett neben dem Seitenstreifen ausweichen. Sogleich wollte der mit einer übergroßen Machete bewaffnete Mann sich über meine Taschen hermachen. Ich brüllte laut „Nein“ und griff ihn an, so dass er zurück wich. Mit mehreren Machetenschlägen, denen ich problemlos ausweichen konnte, gewann er Terrain zurück, als sich der Mann mit der Pistole einmischte, ich solle ruhig halten. Die Hände weit erhoben versuchte ich ihn zu beruhigen und gleichzeitig maximal viel Aufmerksamkeit zu erregen, damit vorbeifahrende Autos sähen, was hier passierte. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Revolver geladen war schätzte ich nur auf 50% ein. Insgesamt überzeugte mich der bewaffnete Gangster nicht ganz in seiner Rolle und ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht trauen würde zu schießen. Gleichzeitig versuchte sich der Machetenmann wieder an meine Taschen ranzumachen, den ich mit einem schnellen Gegenangriff, mit noch gleichzeitig zur Deeskalation erhobenen Händen, daran hindern konnte. Etwa 80 m entfernt hielt endlich ein Pickup- Truck an, der die Szene bemerkt hatte und die Täter nahmen reißaus. Ich brachte mein Fahrrad auf die Straße und gab wieder Gas, falls die Täter nochmal zurück kämen. Es war nicht mehr weit bis zur ersten Mautstation, ab wo ich vor Übergriffen sicher sein sollte. Kaum 2 km später sprang plötzlich kurz vor mir der Machetenmann, mit hoch erhobener Machete in der rechten und einem großen Stein in der linken Hand, wieder aus dem Gebüsch.

                 Man beachte den Waschbrettbauch!

Sie waren mir vorausgefahren um mich nochmal zu überraschen. In der ersten Reaktion versuchte ich mit einem Schlenker auszuweichen und bemerkte gleichzeitig im Augenwinkel die Front des weißen LKWs, der auf der Autobahn heranrauschte. Ich wusste sofort: „Mist, jetzt knallt’s.“ aber für eine Reaktion war es zu spät und die Alternative wäre gewesen, in die erhobene Machete des Gangsters zu fahren. Ein lautes Scheppern und schon landete ich so schnell auf dem Asphalt, dass ich die Details gar nicht genau mitbekam. Auf jeden Fall fand ich mich 5 Meter vor meinem Fahrrad wieder, aber bei vollem Bewusstsein. Ich machte einen Schnellcheck: linker Arm dicke Schwellung am Ellbogen, schien aber nichts gebrochen, große Platzwunde am Hinterkopf, aus der das Blut lief, aber nicht lebensbedrohlich und ein frontaler Kopfbiss, also ein nach ventral verlagerter Unterkiefer, vermutlich durch Ergussbildung im Kiefergelenk. Konnte ich akut also auch nichts machen. Ansonsten ein paar Schürfwunden, eine zerissene Fahrradhose. Mist. Die hatte ich erst seit 3000 km in Betrieb. Die sollte noch 4000 km halten. Eine zerfetzte Fahrradtasche, in der ich meine Küche transportierte. „Das war’s dann“, dachte ich noch. „Jetzt musst du auf jeden Fall ein Stück mit dem Bus oder dem Flugzeug überbrücken, sonst kommst du mit dem Zeitplan nicht mehr hin. Das wirft dich jetzt locker ne Woche zurück.“ Diese drei Sekunden, die so verstrichen, brauchte auch der Machetenmann, um zu schauen, was da gerade passiert war. Doch dann schickte er sich wieder an, an meine Sachen zu gehen. Ich hasse es, wenn Leute meine Sachen anfassen und da ich ohnehin verärgert über diese völlig unnötige Aktion war, brach es aus mir heraus und ich brüllte den Mann an: „Du blödes Arschloch!“, während ich wieder auf ihn zustürmte. Der Anblick des Radfahrers, dem das Blut vom Kopf über die blanke Brust rann und der mit einem Brüll auf ihn zurannte, versetzte ihn so in Schrecken, dass er 10 m ins Gebüsch flüchtet, wo er unschlüssig stehen blieb. Ich sprang sofort auf die Fahrbahn um wieder Aufmerksamkeit zu erregen und Autos anzuhalten. Da schnautzte der Pistolenmann, den ich erst jetzt bemerkte, den Machetenmann an: „Nimm das Fahrrad! Nimm das Fahrrad!“ (an dem noch meine Ganzen Taschen hingen). Dieser Vorschlag traf natürlich überhaupt nicht meine Übereinstimmung und mit drei schnellen Schritten war ich als erster wieder am Fahrrad, steckte die rechte Hand in die Lenkertasche und ließ sie dort, während ich den Machetenmann fest anschaute, der sofort halt machte. Er ging wohl davon aus, dass ich, wenn er sich weiter näherte, eine Waffe aus der Tasche ziehen würde. Mein Trick schien zu funktionieren. Etwa zwei Sekunden schaute ich ihn entschlossen an, bevor er die Beine in die Hand nahm und die Schlacht verloren gab. Auch der Pistolenmann rannte davon und gab zwei Schüsse ab. Ich vermute in die Luft aus Frustration über den Missglückten überfall oder um dem Rest der Bande das Signal zum Verschwinden zu geben. Wohin er gefeuert hat, habe ich nicht gesehen. Ich war schon wieder auf der Fahrbahn der Autobahn um Autos zu stoppen, die allesamt nicht halten wollten, sondern versuchten um mich herumzukurven. Erst als ich mich einem Fahrer komplett in den Weg stellte, war er gezwungen anzuhalten, wenn er mich nicht über den Haufen fahren wollte. Das ist ein großes Problem in Mexiko. Jeder misstraut hier jedem und das führt dazu, dass keiner anhalten möchte, um erste Hilfe zu leisten. Auch der LKW Fahrer, der natürlich den Aufprall gehört und den Unfall gesehen hat, war schon längst über alle Berge. Keiner möchte Probleme und deswegen sucht lieber jeder schnell das Weite. Ich konnte den Fahrer des Autos, das ich gestoppt hatte, davon überzeugen einen Krankenwagen zu rufen und mit mir zu warten bis dieser kam. Das dauerte dann eine Stunde, in der ich meine Sachen zusammensammelte, mir ein Küchenhandtuch auf den Kopf drückte um die Blutung zu stoppen und eine Bestandsaufnahme an meinem Fahrrad vornahm. Lenker verbogen, Klingel kaputt (die funktioniert in Lateinamerika ohnehin nicht. Da wurde ich schon oft gefragt wozu die gut sein soll und es reagiert hier auch keiner auf ein Klingeln) und Steuerrohr verbogen. Als der Krankenwagen endlich kam, musste ich noch zwei Minuten mit den Sanitätern diskutieren, weil ich in ein privates Krankenhaus gebracht werden wollte und dass ich privat versichert bin und bezahlen kann. Im Krankenhaus wurde ich dann ohne Wartezeit sofort ordentlich versorgt, die Wunde gereinigt, eine schöne Tonsur rasiert und mit 20 Stichen genäht. Die Nacht durfte ich dann auf bitte im Krankenhaus verbringen, was mir zur Beobachtung sicherer war und ich keine Lust hatte noch ein Hotel zu suchen. Mit den Ärzten verstand ich mich gut und so ergab es sich, dass man am nächsten Tag gemeinsam zum Mittagessen ging, sich unterhielt und am Ende stand eine Einladung bei einem der Ärzte für die nächsten Tage erstmal unterzukommen. Die Tasche gaben wir in Reperatur bei einem LKW Planen Betrieb, das Fahrrad noch am selben Abend beim besten Fahrradladen in Villahermosa und im Haus des Arztes bekam ich mein eigenes kleines Zimmer mit Klimaanlage. Die Reparatur meines Fahrrades dauerte eine Woche und wurde sehr gewissenhaft und ordentlich ausgeführt und der Lenker gegen einen neuen getauscht. Am Ende musste ich noch nicht einmal etwas bezahlen, weil dem Besitzer des Ladens wichtig war, dass ich einen guten Eindruck aus Mexiko mitnehme und sehe, dass die große Mehrheit nette, hilfsbereite Menschen sind. Auch in meiner Pflegefamilie war ich gut aufgehoben. Die Frau hatte es sich zur Aufgabe gemacht mich zu mästen und mich alle Speisen aus der Region probieren zu lassen. Auch zu Familienbesuchen und zu freunden wurde ich immer mitgenommen und Stolz präsentiert. Wir sind zusammen ins Kino gegangen und ich habe der Tochter bei den Physikhausaufgaben geholfen. Insgesamt eine sehr herzliche und tolle Erfahrung, für eine Woche Teil einer mexikanischen Familie zu sein. Mit dem Bus ging es dann 560 km von Villahermosa nach Puebla, wo ich nochmal 4 Tage im Hotel verbrachte, die Fäden ziehen ließ und meine Ausrüstung wieder Abfahrtbereit machte. Puebla selber hat einen hübschen, lebendigen Kern mit Straßencafés und Fußgängerzone und hat mir gut gefallen. Leicht schmerzt der linke Arm noch unter Belastung oder bei Stößen, aber es fühlt sich gut an, wieder auf dem Fahrrad zu sitzen. Raus ins Land und stetig ansteigend in Richtung Popocatépetl. Schon aus der Ferne ragt er mit seiner Schneekappe auf und immer wieder steigen Rauchwolken aus dem Krater des noch aktiven Vulkanes. Leider sind die letzten 30 km bis zum Pass auf dieser Seite des Berges nicht asphaltiert und so muss ich 8 km unterhalb für den Tag aufgeben. Agbekämpft schlug ich mein Zelt zwischen den Kiefern auf. Sehr schön, nach so langer Zeit mal wieder im Wald zu sitzen. Die Passhöhe mit 3737 m war am nächsten Tag, frisch erholt, schnell geschafft und in zügiger Abfahrt ging es auf der anderen Seite auf Asphalt direkt wieder nach unten. Südlich von Mexiko Stadt kam ich in der Casa de Ciclistas unter und weil gerade mal wieder Stadtfest war, musste ich mich um das Abendprogramm nicht kümmern. Die Fahrt durch die Außenbezirke von Mexiko Stadt am Montag Morgen war Verkehrstechnisch das krasseste, was ich auf meiner Tour bisher hatte. Alle Straßen sind so verstopft, dass selbst ich mit meinem Fahrrad oft nicht mehr um die stehenden oder langsam fahrenden Autos herumkurven konnte und so geschlagene 3 h im Verkehrschaos dieser Megametropole verbrachte, bis ich halbwegs fahren konnte. Leider wurde mir verboten die Autobahn zu benutzen und die Alternativroute führte mich durch ein Armenviertel, durch das ich eigentlich nicht fahren wollte. Beruhigt hatten mich dann aber die Schilder, die dort aufgestellt waren: „Wir sind gegen Straftaten! Wer hier etwas anstellt wird von uns gelyncht! Für mehr Sicherheit im Viertel. Die Nachbarschaft.“ Ein bisschen erinnerte mich das an ein Schild, welches ich bei der Ausfahrt aus La Paz, Bolivien am Eingang zu einem Slum gesehen hatte. Dort Stand allerdings: „Wer hier reinkommt und hier nicht hingehört wird gelyncht!“ und neben dem Schild baumelte eine gehenkte, lebensgroße Puppe am Laternenpfahl. Da war mir die Aufschrift auf den Tafeln in diesem Viertel Mexikos doch deutlich lieber. Über viele Hügel erreichte ich dann endlich den Nationalpark „El Desierto de los Leones“, wo mich ein bewaffneter Parkranger auf seinem ATV durch den Wald eskortierte, der Sicherheit wegen. Ich wollte eigentlich eine Abkürzung nehmen, die mir Google Maps empfohlen hatte, aber als ich dort hineinfahren wollte, wurde mir gesagt, dass ich dort nicht wieder herauskäme. Das sei Rückzugsgebiet von Banden und dort traue sich niemand hinein. Also gut. Dann eben außen rum. Der Nationalpark war eigentlich nur ein großes, geschütztes Waldgebiet und vorbei an einem alten Kloster mitten im Wald, erreichte ich endlich die Autobahn, auf der ich schon lange unterwegs sein wollte. Wieder stand eine lange Steigung an und plötzlich hielt ein alter VW – Käfer vor mir an. Ganz koscher kam mir das nicht vor und mit großer Aufmerksamkeit fuhr ich an dem Auto vorbei, der daraufhin in kurzem Abstand hinter mir folgte. Jetzt war mir klar, dass er mir nur den Rücken frei halten wollte und auf der nur zweispurigen Autobahn den Verkehr hinter mir blockierte. Eine halbe Stund wurde ich so eskortiert und an der Passhöhe angekommen, bot er mir noch Wasser und Essen an und eine Unterkunft, wenn ich dies wolle. Wollte ich aber nicht, weil ich noch die nächste Stadt erreichen wollte. War aber kein Problem. Schon hatte er das Telefon am Ohr und ich eine Unterkunft für die Nacht. Toluca ist vollständig von Industire umgeben. So viel Industrie habe ich in ganz Lateinamerika noch nicht gesehen und jeder internationale Konzern, darunter auch viele deutsche, ist hier vertreten. Im hübschen, aufgeräumten Zentrum wartete ich dann auf meinen Gastgeber für die Nacht. Er gab mir eine Wegbeschreibung zum Haus und wieder ging das Eskortenspiel los. Sehr rücksichtsvoll. Auch hier wurde ich wieder bestens versorgt und bekam am nächsten morgen nach üppigem Frühstück noch ein Lunchpaket mit auf den Weg. Der nächste Tag verlief ereignislos, bis ich an einer Tankstell am Abend fragte, ob in der Nähe eine Unterkunft zu finden sei. Ein älterer Tankstellenmitarbeiter, der sich später als Bruder des Besitzers herausstellte, bot an, dass ich die Nacht bei ihm unterkommen könne. In einer Stunde hätte er Feierabend. Während dessen wurde ich noch auf einen Capucchino eingeladen und konnte noch etwas die Abendsonne genießen. Wieder mal Glück gehabt und es hatte den Anschein, als gebe sich Mexiko alle Mühe, die schlechte Erfahrung, die ich gemacht hatte überzukompensieren und so wurde ich fortan mit Gastfreundschaft regelrecht überschüttet. Hügelig, meist durch trockene bis sehr trockene Landschaft ging es über Guadalajara, vorbei an großen Agavenfeldern mit Blau-Grün leuchtenden Tequila-Pflanzen nach Tequila, der Stadt, die dem Schnaps aus Agavenherzen den Namen gibt. Die Stadt lebt vom Tourismus und dem Alkohol, der hier hergestellt wird und dessen Herstellungsprozess ich mir natürlich in einer der Brennereien angeschaut habe. Die Agavenblätter werden noch auf dem Feld abgestochen, wenn die Pflanze nach 7-9 Jahren, in denen sie keine nennenswerte Pflege braucht, sondern einfach selbstständig im trockenen Boden vor sich hinwächst, erntereif ist. Verwendet werden nur die Herzen. In großen Öfen und Dampfgarern werden die Agavenherzen bei Temperaturen von 80-90 Grad weichgegart. Das Fruchtfleisch ist dabei zuckersüß und sehr lecker. In Mühlen und Pressen wird der Saft extrahiert und im Anschluss drei Tage in offenen Tanks mit Hefezusatz vergoren. Nach zweifacher Destillation darf sich das Produkt dann Tequila nennen. Eine dritte Destillation sorgt für einen sanfteren Geschmack. Nach einer zweimonatigen Reifezeit in Stahltanks kann der Schnaps dann verkauft werden, oder wird in Eichenfässern weiter ausgebaut. Das Städtchen selber ist auch ganz nett und überall sind die Agavepflanzen in stilisierter Form als Muster im Straßenpflaster, auf den Gullideckeln oder an Gartentoren präsent. Weiter hügelig geht es nach Tepic und dann endgültig hinab bis nach Mazatlan, von wo aus ich mit der Fähre nach La Paz, Baja California übergesetz habe. Hier warte ich nun auf meinen Bruder, der schon im Flieger sitzt und die nächsten fünf Wochen mit mir zusammen nach Los Angeles radeln wird. Ich freue mich jetzt schon sehr über den anstehenden Besuch und melde mich dann aus den USA in einem Monat wieder.

Natürlich gab es auch auf diesem Abschnitt wieder so viele schöne Dinge, über die zu berichten es sich gelohnt hätte, wie die schönen Abende, die ich auf den Plätzen der Städte bei Musik oder Live Performances verbracht habe und noch vieles mehr. Aber wie immer fehlt mal wieder der Platz und die Zeit…

Nach 20 000 km haben die hinteren Bremsbeläge die Verschleißgrenze erreicht und mussten ausgewechselt werden. Ein großes Lob an die Markenqualität von Magura! 20 000 km auf einer Backe – das ist spitze!

Mein größter Dank gilt aber natürlich all den Familien, die mir unterwegs und vor allem nach dem Überfall hier in Mexiko geholfen haben. Alle haben sie gezeigt, dass es neben viel Kriminalität, die doch spürbar und teils auch sichtbar ist, auch viel Gutes und viel Gastfreundschaft in Mexiko gibt. So wie es der Bürgermeister einer kleinen Stadt in seiner Eröffnungsrede zu einem Volkloretanzabend, bei dem ich mal wieder der einzige Tourist war, sagte und was sich mehr wie ein Apell als eine Ansprache anhörte: „Wir sind statistisch gesehen das sicherste Dorf im Bundesstaat Sinaloa. Und darauf sind wir stolz. Wir wollen bekannt sein, für die besten Würste, die wir hier produzieren. Für den gepflegten Stadtkern und für die Gastfreundschaft. Wir wollen keine Waffen und keine Gewalt. Und wir wollen auch keine Banden hier, die ihre dreckigen Geschäfte abwickeln und Bürger einschüchtern. Wir wollen, dass Touristen kommen, unser Dorf besuchen und sich hier wohl fühlen. Wir wollen, dass es den Hoteliers und den Restaurantbesitzern gut geht und dass alle davon profitieren. Ich will nicht, dass meine Kinder mit Waffen aufwachsen. Ich möchte, dass sie Kunst, Tanz und Kulltur lernen. Das sind unsere Waffen. Damit treten wir an. Und damit kommt unser Land als ganzes weiter!“

 

Ja. Es gibt sehr viel Gewalt und ich habe das auch auf der Straße gelegentlich beobachten könne, nicht nur bei dem versuchten Überfall auf mich. Einen Polizisten hatte ich angesporchen, dass ich den Überfall gerne anzeigen würde. Der winkte ab und sagte, dass keiner etwas unternehmen würde oder sich da gar einmischen würde. Wer ein guter Polizist sein wolle, der lebe nicht lange oder würde einen Schreibtischjob ohne Verantwortung bekommen. Mit der Kriminalität lebt man in manchen Bereichen und arrangiert sich oder kooperiert gar. Das ist leider auch traurige Realität und in manchen Gebieten Alltag. Aber der größte Teil der Mexikaner möchte das nicht. Ich habe die Mexikaner als eins der freundlichsten und hilfsbereitesten Völker meiner bisherigen Reise erlebt. Und für diese tollen Erfahrungen bin ich dankbar. Im Anschluss gibt es heute 72 Schnappschüsse und Fotografien. Wie immer – Viel Spaß damit!

 

21 thoughts on “20 000 km auf einer Backe”

  1. Du hast Nerven wie Drahtseile! Es ist mehr als Glück, dass du noch lebst und all das Gute nach dem Überfall erleben durftest! Gott sei Dank!

    1. Quatsch. Ich hatte die Situation vollständig unter Kontrolle. Das war halb so wild. Ich habe ja alle Sachen noch.

  2. bin froh, dass du noch lebst… deinen mut möchte ich haben. ich danke Gott, dass alles noch gut ging. schön diese guten Menschen getroffen zu haben. nun gute Weiterfahrt mit Christian und ohne Überfall.

  3. Zum Glück hast du dich Mental auf diese Situation vorbereitet. Dies war die beste Strategie. Leider hast du aber trotzdem Verletzungen davon getragen, was nicht hätte sein müssen. Wünschen dir jetzt ein sicheres weiterkommen und viel Spass in Nordamerika. Geniesse es!!! Und fahre den Highway 1 an der Küste, geht zwar rauf und runter, aber die Strecke ist atemberaubend. Gruss aus der Schweiz

    1. Tja. War halt Pech mit dem LKW. Sonst wäre ja nichts passiert. Küste ist eingeplant… 😉

  4. Wir wuerden ja auch gerne unsere Gastfreudschaft unter Beweis stellen, doch dazu waere ein riesiger Umweg einzuplanen. Also von uns USAlern ein Herzliches Willkommen und nur eine Warnung. Fahrradfahrer sind gefaehrdete Spezies und von Ausrottung bedroht. Also Vorsicht an Kreuzungen wo alle rechts abbiegen duerfen und ofr nicht auf Kreuzungsverkehr achten.
    Weiter gute Fahrt und God’s speed.

    1. Die Gastfreundschaft habt ihr ja schon öfter unter Beweis gestellt.

  5. Lieber Niko, mit grossem Interesse und grosser Spannung haben wir Deinen ausfuehrlichen Bericht gelesen. Wir freuen uns mit Dir, dass trotz der kritischen Zwischenfaelle bisher noch alles gut verlaufen ist, und Du in Begleitung von Christian die naechste Etappe unternehmen kannst. Welche Erfahrung und Bereicherung Du bisher sammeln konntest und damit Dein Leben bereichern kannst. Wir wuenschen Dir und Christian Gottes Segen auf all Euren Wegen. Viele liebe Gruesse aus Orlando, leider kommt Ihr auf Eurer Strecke bei uns nicht vorbei.

    1. Orlando ist einfach zu weit ab vom Weg. Aber wir kommen sicher nochmal zu besuch. Die Staaten stehen ja regelmäßig auf der Reiseliste 😉

  6. Das wird hoffentlich der einzige wirklich schlimme zwischenfall bleiben.
    Viel Spass beim gemeinsamen Radeln mit Christian

  7. Hello Niko – ich bin erleichtert von dir zu hoeren und wuensche dir und Christian eine sichere und schoene
    Weiterfahrt duch Baja. Jetzt in der Osterzeit werdet ihr viele Feste mitereleben und geniest die Reise. Viel
    Spass und tolle Abenteuer – ohne Banditen! Wir erwarten dich mit grosser Freude. .
    Herzliche Gruesse Rainer

  8. Lieber Niko, vielen Dank für die Geburtstagsglückwünsche. Wie immer verfolge ich deinen Blog voller Spannung…Oh, Niko! Glück gehabt. Weiterhin gute Fahrt. Ich drücke die Daumen, dass du die letzten Etappen ohne unerwünschte „Zwischenfälle“ meisterst!

    1. Vielen Dank. Ich gebe mir Mühe, dass alles gut geht 😉

  9. Interessante Reise und so schön geschrieben, habs mit Begeisterung gelesen. Zumal wir die gleichen Ziele teilweise auch besucht haben; ähnliches erlebt haben, jedoch nicht vergleichbar mit Deinen überaus beeindruckenden Erlebnissen. Mexiko ist mein persönliches Reiselieblingsland und gehe absolut dacord mit Dir!!!! Alles Gute, war nett Euch kennenzulernen. Man sieht sich!!!!

    1. Vielen Dank für die Erfrischung unterwegs und noch viel Spaß auf der weiteren Reise. Man sieht sich in Alaska. Viele Grüße

  10. Zum zweiten Mal Geburtstag auf deiner Tour! Diesmal aber nicht allein! Alles Liebe und Gute und feiere wenigstens etwas mit Christian! Und eine gute Weiterfahrt ohne unliebsame Zwischenfälle!

  11. Hallo Nico! Herzliche Glückwunsche zum Geburtstag senden dir die Neubauers. Vergiss bei allem Mut nicht, dass alles Materielle zu ersetzen ist. In diesem Sinn einen schönen Tag mit deinem Bruder und starke Waden für die nächsten Ziele.

  12. Hi Niko!

    Auch von mir noch verspätet Alles Gute zum Geburtstag. Das Einzige wovor Chuck Niko Angst hat, ist sein Spiegelbild. Warum Du aber mit dem LKW nicht fertig geworden bist, versteh ich nicht?

    Weiterhin Alles Gute auf der Reise. Super Fotos!

    1. 😀 Danke! Ich bin mir sicher, dass der LKW eine noch größere Beule abbekommen hat. Das werte ich als Teilsieg.
      Viele Grüße von der Baja California

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